Sonntag, 23. August 2009

pensées plumes (1): das Leben der Geschichten/ and stories to tell

Ach, all die schönen Geschichten. Sie haben einen Anfang, eine übersichtliche und manchmal laszive Mitte und führen schließlich zu einem Ende - gut geölte Maschinerien, die Widersprüche auflösen und Sinn beschwören. Und manchmal sogar, da werden wir an die Hand genommen und durch die weite erzählerische Landschaft geführt, weiter und fraglos immer weiter. Bis alles in lächelnder Eindeutigkeit erstarrt.
Doch manchmal ist es auf eine unbeschreibliche und glückliche Weise anders. Denn die Geschichten schlagen wild um sich und leisten Widerstand. Sie wollen sich nicht daran halten, wie geschmiert zu funktionieren. Sie wollen umspielt und umworben werden und sich nicht einzwängen lassen in ein Korsett. Sie wollen ihr Geheimnis hüten. Mögen sie auch lückenlos, logisch und folgerichtig sein, so sind sie doch noch von einem anderen, einem geheimen Antrieb bewegt–
Da tun sich plötzlich schwarze Löcher auf, Sackgassen, einzelne Augenblicke, nicht zueinander passende Teile, Gesichter ... ein Gesicht; ein Körper, so zerbrechlich und schön, oder hier ... ein Lächeln ... ein Augenaufschlag ... ein Zittern der Haut, Stücke von erstarrten Gesten.
Mit einem mal stehen wir mitten im Dazwischen, im „Neither“, wie ein Gedicht von Samuel Beckett heißt. „Wie zwischen zwei lichten Zufluchten deren Türen / sobald man sich genähert sacht schließen / sobald man sich abgewandt sacht wieder öffnen -“ Das Dazwischen. Das ist eine lange in sich ruhende seidige Pause, eine Geschichte ohne Geschehen, ein Ort, der würdig des Lebens und Sterbens wäre, eine Art Niemandsland, „unspeakable home“, in dem wir unsere Wunden heilen, wenn das möglich ist.
In Alfred Hitchcocks Spätwerk „Frenzy“ führt der Frauenmörder Robert Rusk sein nächstes Opfer in sein Appartment. Die Kamera begleitet die beiden durch das Treppenhaus bis zur Wohnungstür. Dann schließt sich die Tür hinter ihnen, und die Kamera bleibt draußen. Was jetzt zu hören ist, ist nichts als Stille. Kein Kampf, kein Schrei, kein Lärm. Nichts. Rückwärts fährt die Kamera den Weg zurück, den sie gekommen ist, und weiterhin bleibt es still. Wir müssen uns gedulden, ein paar Sekunden, noch ein paar Sekunden. Die Stimme von der wir uns wünschen, dass sie vorausgeht, dass sie uns trägt, schweigt. Fünfunddreißig Sekunden lang. Die Mechanik der Erzählung steht still, nur wir, wir atmen weiter. Das ist der freie Fall aus dem Korsett der Geschichte, die Sekunde der Öffnung, in der die Geschichte uns entlässt aus ihrer so beruhigenden Umarmung, in der sie uns frei laufen lässt. Die Stelle, an der sie uns allein lässt – Und endlich, endlich ist die Geschichte für einen Moment befreit. Befreit aus ihrem unaufhaltbar scheinenden Verlauf. Einen Moment lang wird die Zeit angehalten und das Kommende hinausgeschoben. So lange, bis der Lärm der Straße wieder an unser Ohr dringt. Von draußen, ganz fern, erblicken wir die Fenster des Appartments, und gleich darauf wird sich auch schon die Polizei der Toten annehmen und die Spuren sichern. Der Krimi geht weiter, der Mörder wird gefasst, der Film ist zu Ende, und der Zuschauer geht wieder nach Hause.
Und später am Abend, da ist es, als flüstert jemand in meinem Zimmer. Ich schalte den Fernseher aus oder das Radio, lege das Buch aus der Hand, aber das Flüstern hört nicht auf. Ist das der Wind? („Der Wind draußen schreibt dieses Buch“, hat Georges Bataille einmal gesagt) -
Ja, wenn es denn stimmt, dass es der Wind ist, der die Bücher schreibt und die Geschichten bewegt, dann liegt es wohl nah, an dieser Stelle an eine Notiz von Robert Musil zu erinnern, in der er jedem Leser rät: „Leg dich an einem schönen oder auch an einem windigen Tag in den Wald, dann weißt du alles selbst.“
YVONNE GEBAUER

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen