Dienstag, 25. August 2009

enter the ghost / enter the host

Das Theater – eine Gespensterkunde.

Ein alter Spuk geht um. Es ist nach Mitternacht, bitterkalt und finster. Bis auf das fahle Licht der Sterne. Alles ist in Nebel gehüllt und hinter Wolken verborgen. Auch die Wahrheit. Ein alter Spuk geht um, wir sind im Theater. Und wir erwarten das Herannahen einer erneuten Erscheinung.
Im Theater, da wimmelt es nur so, ganze Generationen von Gespenstern und Wiedergängern bevölkern die Bühnen - Leichentücher, herumirrende Seelen, gellendes Gelächter .... Schreie ... feierliche Schwüre ... und dann diese Augen, so viele Augen, die uns unsichtbar belauern. Die Gespenster statten uns einen Besuch ab. Besuch um Besuch. Immer wieder täuschen sie vor, ihren Wohnsitz bei uns zu nehmen, einen ganzen Abend lang, und wir laden sie gastfreundlich ein. Sie kommen, um uns zu sehen. Und um gesehen und gehört zu werden. Sie verraten, was sie auf dem Herzen haben und erzählen von sich, von vergänglichen Freuden und Leiden und von Imperien, die sterben und entstehen, immer wieder, als ob nichts dabei wäre.
Da gibt es die schönen jungen Frauen, so jung schon seit vielen hundert Jahren, und sie werden immer jung sein, bis ans Ende aller Theatergeschichten und bis ans Ende aller Geschichten. So wie Ophelia, „die der Fluss nicht behalten hat“ oder Pamina, die immer wieder singen und den Tod sich wünschen wird - „Fühlst du nicht der Liebe Sehnen, so wird Ruh im Tode sein“. Am Ende wird sie immer gerettet, denn wir sind im Theater. Und dann die Männer: selten so zauberhaft, doch einige von ihnen werden die Welt retten und andere sind tragische Helden so manches Mal - Figuren, in deren Gesichtern alle Fabeln der Welt wahr werden.
Im Theater, da hören wir die alten Worte, wieder und immer wieder, und in der Oper, da hören wir die alten Lieder, wieder und immer wieder. Die Geister suchen uns heim und belagern uns, Theaterabend um Theaterabend: Enter the Ghost, exit the Ghost, re- enter the Ghost. Auch die Gespenster sind einmal müde geworden, nun haben sie aber sehr wohl Lust weiter zu atmen. Oder zu seufzen. Auch nach dem letzten Atemzug, denn wir haben es hier mit Untoten zu tun. Und sie hausen weiter in unseren alten, abgelebten, überlebten Theater- und Opernhäusern und sollen seit Jahrhunderten immer wieder mit neuem Atem zum Leben erweckt werden. Es gibt die Gespenster, und man muss mit ihnen rechnen. Das Theater - eine Gespensterkunde.
Wie lebt ein Gespenst? Es hat kein wirkliches Dasein und doch: Ein Gespenst ist vollkommen da, ohne da zu sein. Es besetzt Orte, die weder ihm noch uns gehören. Es lebt am Rand der Zeit, ist weder tot noch lebendig, weder im Himmel noch in der Hölle, und es wartet auf seine Wiederkehr. Der Wiedergänger wird kommen, er wird auftauchen, flüchtig und ungreifbar - heimatlos im Heimatland.
Ein Gespenst betritt verstohlen die Szene, und „der hellste Himmel der Erfindung“ geht auf: Shakespeares „brightest heaven of invention“. Mit seinem Auftritt geht eine beunruhigende Fremdheit einher, eine andere Luft, ein anderer Atem - eine Störung. Etwas Unzeitiges tritt auf den Plan, etwas, das sich der Zeit nicht fügt. Das Gespenst nistet sich ein in unserem Jetzt, und es trägt eine andere Zeitrechnung in unsere Zeit hinein. Seine Existenz geht nicht vollständig in der Gegenwart auf, es bleibt ein Rest. Ein Rest von stetiger Unruhe. Das Gespenst durchquert fortwährend die instabile und kaum sichtbare Grenze zwischen der scheinbar so festgefügten Gegenwart und der Sphäre dessen, was abwesend, unwirklich und unbekannt ist. Es gibt zu denken und bringt etwas aus dem Lot: Die Welt dreht sich, und irgendwo gibt es Dinge, die ich nicht kenne.
Und manchmal, da sitzen wir im Theater und beginnen zu glauben, diese Geister seien ganz selbstverständlich lebendige und vollkommen gegenwärtige flexible, anpassungsfähige Zeitgenossen, als kämen sie nicht aus einer alten Zeit und einer rätselhaften Ferne, als würden wir sie genau kennen und verstehen wie unseren allernächsten Nachbarn - Irgendwann ist das Theater aus, und der Vorhang verhüllt die Schatten. Nach dem Ende befürchten und erhoffen die Zeugen der Geschichte eine Wiederkehr, dann again and again, ein Kommen und ein Gehen. Sie sind immer da, die Gespenster, auch wenn sie gar nicht existieren, auch wenn sie nicht sind, auch wenn sie noch nicht sind. Und so lassen wir sie sprechen, wir laden sie ein, zu uns zu sprechen: Erzähl noch mal, alte Träume, die wiederkehren, ein bestimmter Moment, der weit weit zurückliegt, eine ungeheure Zeit, ungeheure Zeiten. Und Lebewohl, auf bald und jeder seinen Horizonten zu -
YVONNE GEBAUER

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