Ohne Netz und doppelten Boden: Über das Reisen.
Wenn wir eine zeitlang ein Leben gelebt haben, das uns beunruhigt und einengt und plagt, dann gibt es nichts besseres als eine kurze Abwesenheit: eine Reise. Man kann nicht reisen, um vor sich selbst zu flüchten, das ist unmöglich, nun ja, aber es gibt unendlich viele Reisen und Reisemöglichkeiten durch die Welt und über die Welt hinaus-
Je partirai! Ich werde reisen! hat noch Mallarmé ausgerufen. Das war 1865, das ist lange her: „Das Fleisch ist müde, ach! Alle Bücher sind gelesen. / Entfliehn! Hinweg! Ich such der Vögel trunknes Wesen...“ undsoweiter. Wohin soll die Reise gehen? Welcher Region des Erdballs sollte man den Vorzug geben? In einer hartnäckigen Unruhe richtet jeder sich nach seinen Sehnsuchtsorten aus: Dakar, Santiago, die Borromäischen Inseln, Java, Tananarive, je weiter umso besser und einmal um den ganzen Globus, eine Reise um die Welt in 80 Tagen, eine Zahl nur der Verständigung wegen, und weil sie Jules Verne und seinem Phileas Phogg so gefallen hat.
Aber wie, wenn es gar nicht darum geht, in die Südsee aufzubrechen? Könnte es nicht sein, dass jemand um den ganzen Globus gejagt und gereist ist und doch gar keine wirkliche Reise gemacht hat? Und was wir suchen, befindet sich nicht notwendigerweise auf der anderen Seite der Welt. Warum reisen wir? „Wir reisen, soviel ich weiß, nicht zu unserem Vergnügen. Wir sind blöd, aber so blöd sind wir nun doch wieder nicht“, sagt Samuel Becketts Reisender Camier.
Es gibt nicht nur Reisen um die Welt und in die Ferne. Denken und träumen und lesen heißt auch reisen. „Reise um den Tag in 80 Welten“ - das Wehen und Wandern eines Gedankens kann die ganze Weltkarte auf den Kopf stellen. Es gibt andere Wege, andere Intensitäten. Diese Art des Reisens ist nichts für den, der die Boulevards liebt, die breiten Straßen. Dieses Reisen findet außerhalb der bekannten Navigationslinien statt, und die Küsten sind in Dunst und Nebel. Ohne Reiseführer begibt sich der Reisende in eine Landschaft, in der es keine Straßen und Wege mehr gibt. „Zones vagues“ - Orte im Zustand der Erwartung. Jetzt heißt es, das Bild und die Empfindung von der Welt auszuweiten, der Geist setzt sich in Bewegung und erfährt die glückselige Gefahr von Improvisation und Spiel.
Es gibt seltsame Reisen in der Stadt, bewegungslose Reisen an Ort und Stelle. Mikro-Reisen. Xavier de Maistre hat am Ende des 18. Jahrhunderts ausgedehnte Entdeckungsreisen durch sein Zimmer unternommen. Die Vorteile solchen Reisens liegen auf der Hand: Jeder kann in seinem Zimmer reisen, vorausgesetzt, er besitzt ein Zimmer. Es kostet nichts, weder Mühe noch Geld, vor schlechtem Wetter und Gefahren aller Art ist man gefeit, und hin und wieder trifft man sogar auf eine Überraschung, wie zum Beispiel auf dem Tisch: Welch ein Duft! Kaffee! Sahne! Und eine Pyramide gerösteter Brotscheiben! De Maistre war Tag und Nacht unterwegs, abwechselnd zu Fuß oder mit seinem Pferd (einem Holzpferd, versteht sich). Ohne Plan und Ziel, diagonal und zickzack - und ganz nach Bedarf auch in allen möglichen geometrischen Linien.
Doch einer der berühmtesten immobil Reisenden heißt Fernando Pessoa. Er verbrachte viel Zeit in seinem möblierten Zimmer am portugiesischen Rand Europas. In seiner Freizeit war er Dichter. Und Verwandlungskünstler: Irgendwann hat er sich einfach vervielfacht, in viele andere Halbschatten seiner selbst, die er „Heteronyme“ nannte. Sie sind „nach innen explodiert“ - eine ganze inwendige Schar von Freunden, tätig von 1914 bis 1935, dem Todesjahr ihres Erfinders. Diese anderen würden für ihn leben und lachen und das doppelte von dem trinken, was er selbst jemals wagen würde. Mit ihnen würde er reisen. Und er reist. Doch einen Zug nach Paris, Madrid, Wien oder noch weiter in die Welt hinaus hat er nie bestiegen. Er ist auf seine Weise gereist. Und er hat unablässig und wie besessen Routen und Reisewege durch die Welt gesucht. Pessoa ruft das wahre Reisen aus! Existieren ist ihm reisen genug: von Tag zu Tag wie von Bahnhof zu Bahnhof im Eisenbahnzug seines Körpers, seines Lebens, seines Schicksals bewegt er sich durch seine eigene innere Geographie, durch sein „inwendiges Portugal“. Und was er dann sieht, ist nicht das, was er sieht, sondern das, was er ist. Tastende Entdeckungsreisen an den Rändern der eigenen Existenz: Reisen heißt doch, sich mit dem Unbekannten messen. Etwas Nomadisches ist in jedem von uns, eine ungefestigte Spur, wie eine Nostalgie, eine alte Möglichkeit. Etwas pulst, und diesem Rhythmus können wir folgen. Auf diese Weise ist Pessoa unentwegt aufgebrochen, zu nie unternommenen Reisen, manchmal in der Dämmerung oder im Zwielicht eines vagen Herbstes. Das rituelle Ziel seiner Reisen: nicht existente Häfen, gelegen an unweigerlich unwirklichen Städten, bereist mit dem Dampfer „Namenlos“. Er hat bereits alles gesehen, was er nie gesehen hat – er hat mehr als alle Meere durchkreuzt, neue Europas entdeckt, ist von einer Himmelsrichtung zur anderen gefahren, er hat die Ufer von Flüssen überschritten, deren Namen er nicht kannte - und sein Leben lang das Maß überschritten.
Nach all seinen Wegen sucht der Reisende schließlich Unterschlupf in einem Strom von Worten. Doch es kann und möchte nicht alles gesagt, benannt und ausgesprochen werden. Alle Reisen und Recherchen haben ihr Ziel und Wollen erreicht, wenn aus ihnen etwas erwächst, was vielleicht eine Art „Gedicht von der Welt“ sein könnte – Gerüche, Farben, Töne und ein paar Worte nur, ihr Klang und ihr Rauschen. Und dann ist Reisen so einfach wie nichts auf der Welt. Man muss sich nur an eines halten: Wie auch immer und wohin auch immer Sie reisen - reisen Sie intensiv!
YVONNE GEBAUER
Dienstag, 25. August 2009
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